Goethes Italienische Reisekur - Eine Selbsttherapie und Karriereplanung 1786-1788
Fragestellung
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Vermutlich gibt es im deutschsprachigen Raum keine zweite Persönlichkeit, über deren Leben wir aus erster, zweiter und dritter Hand so gut informiert sind wie über J. W. von Goethe. Wer Strukturen und Dynamiken von Persönlichkeiten verstehen will, findet hier das denkbar reichste Material. Die zu allen Zeiten außergewöhnlich intensive Selbstaufmerksamkeit Goethes findet während der Reise durch Italien einen Höhepunkt und die Erlebnisse scheinen ihm lebenslang immer wieder erinnerungswürdig gewesen zu sein.
Wir haben allen Grund, Goethes Italienreise als eine Selbsttherapie und ungewöhnliche Form einer Karriereplanung zu betrachten. Er zieht mit seinem Aufbruch nach Italien nach eigenem Bekunden und Handeln die Konsequenz aus einer gründlichen Selbstreflexion, einer lebensgeschichtlicher Anamnese. Sie führte ihn um die Mitte der 80er Jahre zur Diagnose einer tiefen Diskrepanz zwischen Selbstideal und tatsächlicher Selbstverwirklichung. Er verschreibt sich die Reise als eine Heilkur mit all deren wesentlichen Merkmalen. Er plant sie vorab ganz bewußt und in diesem Sinne. Während des Aufenthalts in Italien erprobt Goethe wie in einer Laborsituation alternative Erlebens- und Verhaltensweisen. Er taucht in völlig andere soziale Umwelten ein, läßt sich von unterschiedlichsten Kommunikationspartnern spiegeln, löst sich dabei von eingefahrenen Rollen, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen. Er bemerkt, wie seine ‚Stockungen’ abnehmen, erfährt den ‚Schmerz des Verlernens, ja Umlernens’, der die ‚große Erneuerung’ notwendig begleitet.
In welchem Maße die Anamnesen und Diagnosen zutreffen, zeigt sich am Resultat, der mehr oder weniger gewandelten Karriere. Auch in dieser Hinsicht befinden wir uns gegenüber einer empirischen Beratungsforschung im Hier und Jetzt im Vorteil, die zwar die Beratungsdiskurse direkt aufzeichnen kann, aber selten die Gelegenheit findet, die langfristigen Auswirkungen ebensogut zu dokumentieren.
Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Zeit seines Aufenthaltes in Italien vom September 1886 bis zur Rückkehr nach Weimar am Abend des 18. Juni 1788. Um seine Anamnesen und Diagnosen sowie die angestoßenen Veränderungen zu verfolgen, werden auch frühere Ereignisse und das folgende Jahrzehnt in Weimar in die Betrachtung einbezogen. Zentrales Thema wird es sein, das Selbstkonzept, die kommunikativen Arrangements und die Methoden Goethes zu ergründen, die seine mannigfaltigen inneren Wandlungen auslösten und vorantrieben. Welche Medien setzte er für die Selbsterkundung und therapeutischen Maßnahmen ein, welche Vorstellungen von Gesprächen und menschlichen und nichtmenschlichen Kommunikatoren erschienen ihm hilfreich?