Literaturwissenschaft, M.A.
S, 2 SWS (Mo 18 - 20), LG 4, D03
Michael Giesecke
Schon im bis 1907 verschollenen und vor der Italienreise verfaßten Manuskript ‚Wilhelm Meisters Theatralische Sendung’ entwickelt J.W. Goethe dynamische Dimensionen seines Persönlichkeitsmodells und Theorien biographischen Wandels. Sozialhistorische Dimensionen treten in den ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten’ hinzu. Jahre später, nach tiefgreifenden Veränderungen eigener Lebensumstände, wird das Modell partiell revidiert und neu systematisiert in der Schrift ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre’.
Das Seminar behandelt an diesen Werken drei Themen:
- das Persönlichkeitsmodell Goethes
- seine Annahmen über die Triebkräfte des Lebenslaufs (‚Sendung’, ’Lebensweg’)
- die Kommunikations- und Medientheorien, die er den Gesprächen zugrundelegt, die den Entwicklungsgang Wilhelms verändern.
Zu den Persönlichkeits- und Lebenslaufkonzepten gibt es einschlägige Werke aus dem soziologischen, psychologischen und berufspädagogischen Kontexten, deren Ideen auf die literarische Vorlage angewendet werden sollen. Das Seminar bringt die Literaturwissenschaft mit den aktuellen Ergebnissen zur Biographie-, Persönlichkeits- und Karriereforschung in Kontakt und es entdeckt Goethe als Kommunikationstheoretiker. Sein außergewöhnliches Talent, zeigt sich aus kommunikationstheoretischer Sicht in seiner Fähigkeit, die Umwelt mehrsensuell wahrzunehmen, Informationen massiv parallel zu verarbeiten und bewertende Entscheidungen länger als andere in der Schwebe zu halten, oder ganz auf sie zu verzichten – was ihm und den Romanfiguren, denen er diese Fähigkeit vererbt hat, immer wieder Kritik eintrug. Und es zeigt sich in seiner in der geisteswissenschaftlichen Literatur noch längst nicht ausreichend gewürdigten Eigenart, auch seine nichtsoziale Umwelt als Kommunikationsmedium und Spiegel für seine eigene Person und die seiner Romanfiguren zu nutzen.
Angesichts des Wandels der Arbeitswelt wird die Planung der Biographie und damit eine beständig mitlaufende Selbstreflexion zu einer gesellschaftlichen und individuellen Aufgabe, welche nicht mehr auf Selbständige und einzelne Berufsgruppen beschränkt ist. Lebenslanges Lernen und lebenslange Persönlichkeitsbildung, das Thema des Wilhelm Meister, stellt sich nun auch Angestellten und Arbeitern. Goethe hat die Unterschiede zwischen den Karrierewegen von Adligen und Bürgerlichen zu seiner Zeit in den ‚Lehrjahren’ ausführlich thematisiert.
Prüfungsleistung
Lektüre der Werke und regelmäßige Teilnahme am Seminar sind Voraussetzung für die Erbringung von Leistungspunkten in Form von Seminarvorbereitung (Referat plus Protokoll) und begleitende bzw. selbständige Hausarbeit.
Referatthemen
- Genogramm der Personen, ausgehend von Wilhelm
- Goethes Modell des ‚Lebenswegs’, der ‚Sendung’ usf. in der ‚Theatralischen Sendung’ im Lichte soziologischer Biographieforschung und anderer Modelle von Lebens- und Übergangsphasen (Kohli, Lievegoed, van Gennep ...)
- Wilhelm Meisters Begriffe für die eigene und fremde Persönlichkeiten (‚Menschen’) im Lichte späterer Theorien
- Kommunikation als Spiegelung „Ach! … zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei Magnetuhren: was in der einen sich regt, muß auch die andere mitbewegen, ... “
- Die richtige Balance zwischen Innenwelt und Außenwelt, Selbst- und Umwelterkundung (Antiaufklärerische Tendenzen)
- Edelmann, Bürger, Lohnabhängige: Gesellschaftliche Schichtung und Persönlichkeitskonzepte
- Der Lebenslauf als Veränderung von Prämierungen/Werten: Wilhelms Karriereanker (E. Schein) in den verschiedenen Lebensphasen; Karriereanker als Ausdruck von Werten
Aus: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche., I. Abtl., Bd. 9: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung, Lehrjahre und Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderter. Hrsg von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt/M. 1992.
Literatur:
Basislektüre ist die Frankfurter Goethe-Ausgabe (Deutscher Klassiker Verlag) mit reichhaltigen Dokumente zur Wirkungsgeschichte, Stellenkommentare und Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte und Literaturhinweisen (ab S. 1123):
Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche., I. Abtl., Bd. 9: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung, Lehrjahre und Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderter. Hrsg von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt/M. 1989.
Bürkle, Hans: Aktive Karrierestrategien – Erfolgsmanagement in eigener Sache. 3. Aufl. Frankfurt / M. 2002, (1. Aufl. 1986).
Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. Düsseldorf/Zürich 2002 (1. Aufl. 1999). (insbes. S. 133-159).
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