Aus:

Michael Giesecke

Literatur als Spiegel von und für Kulturen
Ein medien- und kulturtheoretischer Zugang zu literarischen Phänomenen

Im Spiegelungsmodell erscheint Information als eine Eigenschaft verschiedener Seinsstufen der Materie, bzw. von verschiedenen Typen von Medien. Kommunikation wird als Widerspiegelung, Resonanz, Pacing zwischen Medien und Kommunikatoren verstanden. Ich wüßte nicht, wie eine Theorie, die auf eine solche ontologische und medientypologische Komponente verzichtet, die unterschiedliche Materialität der Medien berücksichtigen kann.

Literatur, literarische Kommunikation und Literaten aus kommunikationstheoretischer Perspektive

Konzepte Literarische Information als Literarische Kommunikation als Literaten als
ontologisch mehrdeutiger Spiegel und Spiegelungsprodukt anderer Medien Katalysator und Produkt spezifischer kultureller Widerspiegelungsprozesse Spiegel und Deuter von Spiegelungsphänomenen
informationstheoretisch Gegenstand und Ergebnis spezifischer (psychischer, sozialer, u.a.) Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Darstellungsprozesse Parallelverarbeitung literarischer Informationsmedien durch mehrere Prozessoren Elemente (Sensor, Prozessor, Effektor) informationsverarbeitender Systeme
strukturell emergente Eigenschaft spezifischer sprachlicher/semiotischer Relationierung Vernetzung von Kommunikatoren durch literarische Medien network-agents

Die in der Tabelle dargestellten Zugangsformen zur Literatur und zur literarischen Kommunikation reformulieren größtenteils vertraute literaturwissenschaftliche Ansätze. Es geht mir weniger um neue Perspektiven als vielmehr darum, die vorhandenen und bislang häufig nebeneinander herlaufenden Richtungen in allgemeine kommunikationstheoretische Überlegungen einzuordnen. Damit wird die Literatur als Sonderfall von Spiegelungs-, Informationsverarbeitungs- und Vernetzungsprozessen erkennbar. Zugleich ergeben sich in den verschiedenen Dimensionen klare Fragen an die Werke und Autoren, die wiederum Vergleiche erleichtern. In diesem Seminar wird nur der ontologisch-spiegelungstheoretische Ansatz verfolgt.

Die Literatur als Spiegel und Spiegelungsprodukt der vielen kulturellen Informationsmedien

Die Literatur erscheint aus dieser Perspektive sowohl als Informationsmedium, in dem sich die Strukturen vieler anderer spiegeln, als auch als ein informationsverarbeitendes System, welches Spiegelungen aufdeckt und zwischen Medien, Kulturen, Menschen usf. vermittelt. Je besser sie ist, desto mehr vermittelt und spiegelt sie. Außerdem nimmt die Tiefenstaffelung der Spiegel zu. Besonders deutlich wird der Spiegelungscharakter in literarischen Gattungen, wie der Parabel, der Fabel, dem Gleichnis oder dem Märchen. Aber auch in anderen und längeren Gattungen wird mit Spiegeln gearbeitet. Natürlich läßt sich auch die Metapher vor diesem Hintergrund interpretieren: Was immer sie sonst noch sein mag, in jedem Fall stellt sie vergleichende Beziehungen zwischen unterschiedlichen Medien her. Auch diese Einsicht ist nicht neu. Aber man kann sie vor dem Hintergrund des Konzepts der Kommunikation als Spiegelung systematisieren, u. a. indem man die verschiedenen Typen von Medien beziehungsweise Informationssystemen auseinanderhält und die spezielle Dynamik der verschiedenen Spiegelungsprozesse aufdeckt. Also: Wie spiegelt sich Biogenes in Psychischem und in Sozialem, Soziales in Psychischem und Technischem usf.. Ich habe in der Abb. 1 in diesem Sinne Medien in Form einer Kreuztabellarisierung aufgelistet, die bei literarischen Spiegelungen typischerweise benutzt werden.

Abb. 1: Wichtige Typen von Spiegelungen

in

von

Psychischem Verhalten/Körper Sozialem Tieren Pflanzen übrigen Natur Technik
Psychischem
Verhalten/Körper
Sozialem
Tieren
Pflanzen
übrigen Natur
Technik

Jede biographische Erzählung möchte dem Zuhörer das Erleben des Erzählers nachvollziehbar machen, Katalysator zur Wiederholung der Psychodynamik sein. Die Schilderung der körperlichen Bewegungen, des Verhaltens des Protagonisten, zeigt Parallelen zu seinem Erleben und ermöglicht dem Leser eben hierdurch den Schluß auf das Seelenleben. Es genügt aber auch, den Tumult auf der Straße, das Hin und Her der Personen zu beschreiben, um einen Eindruck von der Gemütsverfassung des literarischen Zuschauers zu geben. Die Walfische im ‚Kassandramal' von Tschingis Aitmatow legen die Seelen der Menschen offen. Die Bibel nutzt Pflanzen, wie z. B. den Dornenstrauch oder tiefwurzelnde Bäume, um Ungläubige von Personen zu unterscheiden, die fest im Glauben stehen. Das bei uns wohl bekannteste Werk, welches die Beziehung in der anorganischen Natur zur Klärung der Beziehungen in und zwischen Mann und Frauen nutzt, stammt von J. W. von Goethe und trägt den Titel ‚Wahlverwandtschaften'. Die Spiegelung des Menschen in der Technik und umgekehrt ist ein beliebtes expressionistisches Thema.

Wenn bloß zwei Spiegel oder/und nur eine Spiegelungsrichtung genutzt wird, so empfinden wir die literarischen Werke schnell als psychologisierend, sozial agitierend, simpel usf. und sie sind dann auch vielfach der Fachliteratur unterlegen. Wie die Form der Tabelle aber schon andeutet, ist nicht nur eine Spiegelungsrichtung möglich. So kann die körperliche Bewegung durch die Schilderung der Gemütslage verständlich gemacht werden. Das große Thema Theodor Fontanes ist die Spiegelung von Sozialem in Psychischem: Der preußische Verwaltungsapparat und vor allem das Heereswesen dienen als biographisches Entscheidungsprogramm auch und gerade in gänzlich privaten Situationen. Aber wie schon gesagt: Die Kunst besteht darin, zwar eine dominante Spiegelungsrichtung vorzugeben, aber dennoch immer wieder die Richtung zu wechseln, zu oszillieren.

Das Spiegelungskonzept kann nicht nur zum Verständnis literarischer Stilmittel und insbesondere natürlich auch zu einer Klassifikation von ‚Metaphern' eingesetzt werden, es eignet sich auch für evolutionstheoretische und historische Betrachtungen. Die Vermutung liegt nahe, daß Kulturen, Zeiten, Regionen, soziale Schichten, Autoren sich nach den bevorzugten Spiegelungstypen unterscheiden.

Hirten- und Nomadenkulturen, in denen z.B. auch Aitmatow wurzelt, dürften vorwiegend Tiere als Spiegelungsmedium nutzen. Die Pflanzen haben in den mittelalterlichen Agrarkulturen und in einzelnen Epochen islamischer Länder eine große Rolle gespielt. Typischerweise werden diese Vergleiche mit Tieren und Pflanzen im späteren Industriezeitalter immer mehr zugunsten einer technischen und sozialen Metaphorik zurückgedrängt.

Gegenwärtig zeigen sich allerdings, meines Erachtens, deutliche Anzeichen einer Gegenbewegung. Nicht nur die Ausrichter der EXPO 2000 versuchten mit der Betonung von Bäumen, Gärten, eben der Natur ein Gegengewicht zur Technik zu schaffen. Auch das Management an der Jahrtausendwende ‚führt' nicht mehr, sondern ‚fördert' das ‚Wachstum'. Spiegelungen und Widerspiegelungen sind Grundcharakteristika von Wahrnehmung und Kommunikation und keineswegs ein ausschließlich künstlerisches Prinzip. Wie bei dem informationstheoretisch-epistemologischen Ansatz auch, stehen wir deshalb vor der Aufgabe, die Spezifik künstlerischer Spiegelungen - bzw. künstlerischer Informationsverarbeitung - aufzudecken. Ich muß mich an dieser Stelle (Abb. 2) darauf beschränken, einige Hypothesen über die Unterschiede zwischen Spiegelungen in der Fachprosa und in der Belletristik zur Diskussion zu stellen.

Abb. 2: Unterschiede zwischen Fachliteratur und Belletristik aus spiegelungstheoretischer Sicht

Fachliteratur

Belletristik

  • Vergleichsgrößen werden explizit benannt und standardisiert, z.B.: Längenmaße, geometrische Fromen, physikalische Modelle
  • Nur sprachlich verarbeitete, reflektierte Spiegelungsphänomene gelten als Datum und Argument
  • Es gibt Regeln für das Vergleichen (Messen)
  • Der Vergleich ist einseitig: a wird durch b erklärt und nicht umgekehrt
  • Vergleichsgrößen werden nicht benannt, bleiben individuell: Freiheit auszuwählen.
  • Spiegelungen können latent bleiben.
  • Viele Vergleiche sind möglich, keine Norm
  • Der Vergleich ist reversibel. Beide Medien erhellen sich wechselseitig. Das führt zu ambivalenten Charakterisierungen.

Literatur als kulturelles Phänomen

Wenden wir die informationstheoretische, die spiegelungstheoretische und die strukturelle Beschreibungsperspektive gemeinsam auf literarische Phänomene an, so erhalten wir Modelle, die kulturwissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Das gegenwärtige Interesse an Kultur und Kulturwissenschaften gründet letztlich in der Ahnung, daß die strikt disziplinäre (funktional differenzierende) Beschreibung unserer Gesellschaft für die Lösung zukünftiger Gestaltungsaufgaben wenig Impulse liefern kann. Gebraucht wird ein ganzheitliches, multimediales Herangehen. Oder anders: ein Zusammenführen der ausdifferenzierten Systeme bzw. Wissensbereiche.

Es macht keinen Sinn, einer bloßen Modifikation sozialwissenschaftlicher, psychologischer oder anderer einzelwissenschaftlicher Konzepte nun das Etikett ‚Kulturwissenschaft' anzuheften. Es sollten vielmehr Unterschiede zwischen sozialen, psychischen, informationstechnischen Phänomenen einerseits und kulturellen Phänomen andererseits gemacht werden. Diese Anforderung löst das vorgestellte Konzept durch das Prinzip der Mehrfachbeschreibung. Kultur erscheint dann als mehrdimensionales Modell, wobei die verschiedenen Dimensionen, zirkulär miteinander zusammenhängen und sich so wechselseitig erklären. Natürlich sind auch andere Dimensionen, als die hier vom Standpunkt einer allgemeinen Kommunikationswissenschaft vorgeschlagenen, möglich.

Aus der epistemologisch-informationstheoretischen Sicht erscheinen kulturelle Phänomene als multisensuelle, massiv parallel verarbeitende und multimedial kommunizierende Systeme.

Aus der strukturellen Perspektive erscheinen Kulturen (und Menschen) als Ökosysteme, d. h. als Zusammenschlüsse nicht bloß von mehreren Systemen sondern von mehreren unterschiedlichen Systemtypen. Ökosysteme haben kein Zentrum. Sie können sich aus der Sicht jedes Teilsystems beschreiben und jede dieser Beschreibungen liefert andere Einsichten, holt andere Zusammenhänge hervor.

Aus spiegelungstheoretischer Sicht bestehen kulturelle Phänomene aus unterschiedlichen Klassen von Medien. Beschreibungen menschlicher Kulturen müssen mindestens soziale (ökonomische), psychische, technische und biogene Systeme berücksichtigen.

Der Mensch als Teil der Kultur und als Produkt der naturgeschichtlichen Evolution setzt sich ebenfalls aus verschiedenen Typen informationsverarbeitender Systeme: physikalischen, chemischen, biogenen, psychischen, sozialen u. a. zusammen. Die Einheit der Kulturen wird durch die wechselseitige Spiegelung der Systeme ineinander hergestellt: Strukturähnlichkeiten, Wiederholungen, Übertragungen, resonanter Rhythmus usf.

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