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 Neben den i.e. S. wissenschaftlichen Zielen des Projekts besitzt es auch eine aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz. Diese erschließt sich u.a. dann, wenn man die Grundannahmen, die Goethe Abstand zu den ideologischen Bewegungen seiner Zeit nehmen ließ und die schon von seinen Zeitgenossen gerügt wurden, genauer bestimmt. Dabei stellt sich heraus, daß in unserer unmittelbaren Gegenwart diejenigen Wertmaßstäbe oder ‚ideellen Grundlagen’, die die Goetheschen Positionen als ‚überholt’ (H. Schlaffer), als ‚ohnmächtiger Anachronismus’ (H. Mayer) erscheinen ließen, nun ihrerseits fragwürdig geworden sind.

Angesichts des Wandels der Arbeitswelt wird die Planung der Biographie und damit eine beständig mitlaufende Selbstreflexion zu einer gesellschaftlichen und individuellen Aufgabe, welche nicht mehr auf außergewöhnliche Personen oder Situationen beschränkt ist. Die „zumindest partielle Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens“ (M. Kohli 1994), die nach einer Ausbildungsphase eine lebenslange Tätigkeit in einem Beruf und Erwerbslosigkeit erst im Rentenalter als Normalform vorsahen, verlangt von jedem einzelnen eine permanente Karriereplanung. Auch die berufliche Qualifizierung entwickelt sich zu einer Aufgabe jedes Einzelnen, die ihm nicht mehr von Institutionen abgenommen wird. Insoweit wird das, was der 'inkommensurable' Goethe von sich forderte, zunehmend zu einer Aufgabe für einen größeren Teil der Bevölkerung. Lebenslanges Lernen und lebenslange Persönlichkeitsbildung, das Thema des lange vor Italien begonnenen Wilhelm Meister, stellt sich nun auch Angestellten und Arbeitern. “The career is a lifelong series of identity changes and continuous learning”, faßt Douglas Hall 1996 die Arbeitsmarktsituation zusammen. Auch der ‚produktiven Verarbeitung von Erfahrungen des Scheiterns’ kommt in unserer Zeit häufiger zwangsweiser beruflicher Umorientierungen besondere Bedeutung zu (H. J. Pongratz). In diesem Punkt gleichen sich die alltäglichen Karrieren unserer Berufswelt den Karrieren der genialen Außenseiter früherer Jahrhunderte an. Insoweit bestätigt das Buch Goethe als Vordenker ‚neuzeitlicher Subjektivität’ (W. Voßkamp). Er konnte diese Rolle u.a. deshalb erfüllen, weil er es verstand, widersprüchliche Komplexität in seinem Schreiben und Denken – auch über sich selbst -  zu erhalten.

Goethe offenbart sich als triadischer Denker, gewiß einer der letzten, der dieses Prinzip auch in den naturwissenschaftlichen Diskursen gegenüber dem analytischen Entweder-Oder-Denken aufrechterhalten wollte. Die Zeit für seinen gelegentlich auch unbestimmt als ‚ganzheitlich’ bezeichneten Ansatz war danach für eine lange Periode der Geistesgeschichte vorüber. Das monokausale Denken verstellte den Biographen im 20. JH nicht zuletzt auch den Blick auf grundlegende Wesensmerkmale und Antriebe von Goethes Persönlichkeit. Er sah sich als Ergebnis mal kooperierender, mal konkurrierender, mal nebeneinanderherlaufender Prozesse und es scheint mir, als wollte er auch so beschrieben werden.